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Fatshaming in San Francisco und Berlin

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Anlässlich des Artikels 11 Powerful Photos Show What It Feels Like to Be Fat in America, den Misha von indub.io auf seiner Facebookseite geteilt hat, habe ich mir ein paar Gedanken zu meinen Erfahrungen mit Fatshaming und Glotzen in San Francisco und Berlin gemacht.

Vorweg: Natürlich lässt sich ein flächenmäßig so großes Land wie die USA kaum unter einen Nenner bringen bezüglich einer Gesamtaussage über das Verhalten seiner Bewohner. Daher vergleiche ich die beiden Städte, die ich inzwischen sehr gut kenne, die ähnlich beliebt sind und sich beide selbst als “bunt” und “tolerant” verstehen.

Ich kann die Beobachtungen aus dem verlinkten Blog in Bezug auf San Francisco so nicht bestätigen. Eher im Gegenteil, denn ich habe selten so viele tolle und selbstbewusste Dicke gesehen, die sich ganz “selbstverständlich” modisch und bequem kleiden und natürlich wunderbar aussehen. Und mich schmerzt es sehr in diesem Zusammenhang von “selbstverständlich” sprechen zu müssen. Ebenso sehr viele Dicke, die Hipsterfreunde haben oder eben selber welche sind und super integriert wirken. Das ist hier Normalität. Man sieht glückliche Dicke auf den Strassen und in diesem Moment fällt einem erst auf, wie sehr das alles in Berlin gerade schiefläuft, weil man dieses Bild einfach nicht gewohnt ist. Es könnte so schön sein.

Ich sehe lachende Gesichter und keine verschämten Blicke auf den Boden. Und ich war in der Tat sehr verblüfft darüber, denn diese Normalität gibt es in Berlin nicht. In San Francisco trägt so ziemlich jeder einen Rock wenn es warm ist und die “bösen” Leggings sieht man an allen Beinformen, weil sie eben bequem und günstig sind. In der Tat bekommt man hier sogar häufig Komplimente von Fremden (sogar von Frauen, was ich so in Berlin ebenfalls noch nicht erlebt habe) - “Nice shirt!”. Blabla. Man ist schnell im Gespräch. Wo man herkommt und so weiter. Während meiner Zeit in Kalifornien, und ich habe inzwischen eine Menge davon hier verbracht, habe ich nie einen Amerikaner über einen Passanten oder dessen Körper lästern hören, sondern nur Freundlichkeit gehört und wahrgenommen. Entweder man sagt nichts, oder man sagt etwas Nettes. Ich gehöre vielleicht nicht zwingend (je nachdem wer es definiert) zur angesprochenen Gruppe, aber ich könnte diverse Gründe aufzählen warum ich in Berlin häufig angestarrt und angefeindet werde (zu fettige Haare, zu dicke Beine, zu dicker Popo, ungekämmt, Flecken auf der Hose oder mal eine Jogginghose an oder schlechte Haut, wasauchimmer usw.). Ich habe mich noch nie so wohl und akzeptiert gefühlt wie in San Francisco und ich bin nicht bereit auf diesen Komfort nach meiner Rückkehr nach Berlin wieder zu verzichten.

In Kalifornien sieht man zudem ein weiteres Bild, das für einen Berliner sehr ungewohnt ist: Viele Dicke, die in engen Hosen und ärmellosen Tops Sport treiben. Joggen, Radfahren und alles was man eben so macht, wenn man Sport mag. In Berlin bedarf es schon eines sehr guten Selbstbildes, eines schier unbegrenzten Selbstbewusstseins, wenn man als Dicker Mensch in engen Klamotten laufen geht oder ein Fitnessstudio besucht. Mich macht das traurig. Ist das die Realität, die wir begrüßen?

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Berlin ist eben anders. Berlin ist insgesamt wesentlich dünner. Die modischen Damen der deutschen Hauptstadt haben alle sehr, sehr schlanke Körper. In Kalifornien scheint mir das Ideal zwar auch dünn, aber nicht das magere Dünn zu sein. Der Körperumfang ist in den Köpfen der meisten jungen Berliner, die man so trifft, mit Charaktereigenschaften wie “Stärke”, “Disziplin” und “Kontrolle” verbunden. Heißt: “Wer dick ist, ist schwach und ein Opfer.” Und nach dieser (vermutlich meist äußerst unbewussten - und das meine ich sehr entschuldigend, denn den Fehler möchte ich nicht individuell bei Einzelpersonen suchen) Einstellung wird dann auch gehandelt. Die Verlierer möchte man für ihre fehlende Disziplin abstrafen. Sie sollen ihr Verliererdasein gefälligst auch zu spüren bekommen. Und wenn es nicht offen gesagt wird, dann liest man es aus dem Kontext heraus, oder die Blicke, mit denen dicken Menschen begegnet wird, verraten es. Wer nicht in die sozial akzeptiere Kleidermindestgröße passt oder eben schlechte Haut hat oder “es wagt” trotz seines dicken Arschs eine graue Joggingshose anzuziehen (wie ich), wird attackiert oder schief angeguckt. Es sei denn sie kennen einen und wissen, dass man Ada Blitzkrieg ist. Dann ist es komischerweise immer in Ordnung. LOL! Denkt mal drüber nach…

Nachtrag: Ich hoffe inständig, dass sich niemand durch den Begriff “Dicke” verletzt fühlt. Ich verfolge die aktuelle Diskussion schon lange und leider gibt es für mich noch kein wirklich wertneutrales Konsenswort. Wer einen Vorschlag hat, kann ihn mir gerne per Mail schicken! Dankesehr.

Published 14 Nov 2014