Als ich ein Pony zu Weihnachten bekam
1987:
Später erzählte man mir oft die unschöne Geschichte wie ich versucht habe mich mit ausgestreckten Beinen in das lachhaft kleine Puppenbett (Stichwort: neue Geschenke ausprobieren) zu quetschen und mich bis zur absoluten Bewegungsunfähigkeit in diesem groben Holzkäfig verkeilt habe. Ich war Jumbo Schreiner Junior und mein Einsatz im Sinne der Aufklärung war brutal, selbstzerstörisch und sollte zeitlebens ein Mahnmal für meinen weniger draufgängerischen Bruder darstellen.
Rosa Angorapullover, eine gemütliche aber zugleich modische blaue Latzhose, die heute nur Menschen aus dem Umland tragen, und den obligatorischen Hemdkragen (Nur Kinder, die in den 80er Jahren geboren wurden wissen, dass dieser Art des Kragens meistens nicht, wie schnell auf den ersten Blick vermutet wird, als Gesamtkonzept zu einem Hemd gehörte, sondern ein verlogener Accessoirekragen zum Vorheucheln von sozialem Status und guter Erziehung war).
Latzhosen scheinen durch und durch mein Ding gewesen zu sein. An drei Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1987 trage ich insgesamt drei Latzosen in drei verschiedenen Farben. Leider habe ich das Fotoalbum dieses Jahres nicht in Berlin vorliegen um den "Verdachtsfall Latzhose" näher zu untersuchen. Meine Logik suggeriert mir allerdings, dass ich vermutlich im Jahre 1987 genau 365 Latzhosen in 365 Farben besessen haben muss.
Die Geschenke waren klassisch, selbstgebaut, kreativ und hatten nichts mit dem zu tun was später folgen sollte: 64-Bit Welten, kräuselige wasserstoffblonde Plastikhaare auf einem Plastikkonstrukt, das dem Körper einer kleinwüchsigen Elefantitisfrau nachempfunden wirkte, ferngesteuerte Autos mit dem Namen "RACER12000", in dessen Rädern sich später unser Hund im Welpenalter verbiss und mein Bruder nicht geistesgegenwärtig genug war mit dem Gas geben aufzuhören, so dass die ersten Zähne unseres kleinen Parson Jack Russel Terriers von dieser Perversion der Spielzeugindustrie zergeschmettert wurden.
1987 war unser Jahr. Tipp-Kick, eine gebrauchte Ritterburg, in deren Inneren wir ein paar Jahre später den größten Popel der Welt fanden und einen coolen schwarzen Lenkschlitten, um den uns die anderen Kinder bis zum Abitur beneideten. Ich bekam meinen ersten Buggy und ein merkwürdiges Plastikhaus, in dem klotzige Figuren wohnten und alles was man anfasste nervige Geräusche machte. Mit dem praktischen Tragegriff sah das Teil aus wie ein frühes Apple Powerbook.
1988:
In diesem Jahr sollte sich alles ändern. Mein Vater, der handwerklich begabte Tausendsassa, konstruierte ein gigantische Puppenhaus, das einen Raum in unserem Haus fast komplett mit der Masse an Holzideen und gestrickten Miniaturtopflappen ausfüllte. Tapeziert mit Tapetenresten aus dem Haus meiner Großmutter, Gardinen, deren muffiger Stoff in Erdfarbe heute nur noch durch H&M in Berlin Mitte gewinnbringend verkauft werden kann, Spitzengardinen, winzig kleine Stühle, die sonst nur Goatse als Requisite für seine bereichernden Videos benutzt, und sehr kleines Geschirr. Für Kinder muss immer alles klein sein. Irgendwann möchte man dann alles groß haben. Dann ist man kein Kind mehr.
Wen ich wohl anrufe? Dr. Helmut Kohl?
1989:
Das Jahr des Mauerfalls. Der Einheitskanzler hat uns alle sehr lieb. Kinder in Schlafanzügen. Wir hatten ja im Westen immer von allem so viel! Mein Bruder präsentiert auf diesem Foto stolz sein neues ferngesteuertes Auto, und ich (im roten Schlafanzug mit Pfotenmuster und Motivkatze auf der Brust) habe offensichtlich Nachwuchs bekommen. Eine Glatze und ein Hartplastikwesen, das beim Drehen knatscht und die Frisur der heutigen Kanzlerin zur Show trägt. Vielleicht wollte ich mir vom Kindergeld auch ein ferngesteuertes Auto kaufen oder einen neuen Friseur beauftragen. Man hatte ja noch Pläne. Der Puppenwagen sieht ein bißchen aus wie das Geräusch, das man beim Bumsen auf einem älteren Gästebett macht. Im Hintergrund erkennen wir eine Sammlung lustiger Taschenbücher und einen Fernseher, auf dessen Bildschirm ein ganz besonders grausamer Mensch einen Aufkleber platziert hat. "Das Gerät" erinnert an einen altmodischen Volksempfänger, galt aber als High-Tech.
Der Kaufladen. Wenn deine einzigen Kunden deine Großmutter und deine Mutter sind, und höchstens alle paar Tage mal dein größerer Bruder im Laden vorbeischaut um Holzobst zu stehlen oder deine Ladentheke zu zertrümmern, dann solltest du aufhören zu glauben, dass du mal mit deinem kleinen Laden sehr reich werden wirst. Niemand ist je mit einem Kaufladen reich geworden. Die Leute bestellen lieber im Internet oder kaufen in den größeren Städten. Aus Frust habe ich im Folgejahr meinem Bruder eine Schere in den Kopf "gesteckt" und ihm mit dem Stopper meiner ersten Inline-Skates die Lippe aufgetrennt - beim Fahren - aus Versehen. Kapitalistensau!
1990:
Mein schönstes Geschenk ist der Plüschelefant. Er ist perfekt gebaut. Perfekter als es Barbie je war. Jedes Detail an diesem Wundergeschenk ist faszinierend und funktional zugleich. Wenn man sich mit dem Kopf auf den Bauch des Elefanten legt, kann man seine Beine um den eigenen Hals legen und sein Rüssel liegt beruhigend auf der Stelle, wo der Wirbel auf meinem Kopf die Haare in alle Richtungen wirft. Jahrelang diente der Elefant als Kopfkissenersatz. Ich habe mit ihm gespielt, gelacht und ich habe in ihn geweint. Als ich mich vor Spinnen gefürchtet habe. Als ich nachts nichts schlafen konnte, weil ich so große Angst hatte, dass unser Haus von alleine Feuer fangen könnte. Als wir den Wellensittich weggeben mussten, weil der Hund ihn nur noch töten wollte. Als meine Bruder gemein zu mir war. Als meine Eltern gemein zu mir waren. Als die Welt gemein zu mir war. Als ich mich hasste. Als ich enttäuscht war. Als ich traurig war, wenn andere traurig waren. Als mein Hund krank war. Als mein erster Freund nachts betrunken vor meiner Tür stand und mir drohte. Als ich keine Lust hatte zur Schule zu gehen. Als ich meine Eltern hasste. Heute hole ich dieses Wunderwesen, mit den ausgeschlagenen Augen (Mutter schlug ihm beim Staub "ausschütteln" immer mit den Augen auf den Fensterrahmen), nur hervor, wenn es mir wirklich schlecht geht, wenn ich zweifele, wenn ich nicht weiter weiß, wenn es dunkel und kalt ist.
1991:
Barbie hat nun ein eigenes Appartement. Der Junge mit den kurzen Haaren und den fliederfarbenen Klamotten bin ich. Ambivalenz irgendwo zwischen 15cm hohem Frisierstuhl und beim Fussball die Jungs abziehen.
Barbie wohnte in den frühen 90ern anders als heute. Ein kleines Appartment mit Boombox und zwei Spiegeln auf 4qm. Ein Alptraum ohne Fenster. Ich trug immer nur selbstgestrickte Wollsocken.
1991 hat mein Leben revolutioniert. Vater besorgte uns ein nagelneues NES. Die ersten Spiele waren so bunt und aufregend. Ein derartiges Gerät hatte ich bisher noch nicht besessen. Wir packten Spiel um Spiel aus und schliefen in den Folgetagen nicht mehr. Das Startetpaket 3in1 mit Tetris, World Cup und Super Mario Bros 1 war jahrelang das großtmöglich vorstellbare Glück für meinen Bruder und mich. Zwei Jahre später, im Jahre 1993, beglückte mein Vater uns mit einer neuen Konsole, dem Supernintendo. Danach folgten Jahr um Jahr Spiele für beide Konsolen. Mein Bruder, mein Vater und ich. Ich besitze und benutze beide Konsolen bis heute.
1993:
These: Jedes Kind hat mindestens ein Mal im Leben "das verrückte Labyrinth" geschenkt bekommen. Zum Glück hat aber nicht jedes Kind diese absurde Puppe geschenkt bekommen. Ihr Name: Starlet. Ihre Haare: leicht brennbar. Ihre Funktionen: Wiedergabe eines in ein Mikrofon eingesprochenen Textes durch die offenen Plastikfleischwunden ihres buckligen Rückens. Kein Wunder, dass ich lieber mit meinem ersten ferngesteuerten Auto spiele.
1994:
Spaghettipuppe. Keine Ahnung was die konnte. Cortisongesicht und irgendein ernsteres Chromosomenproblem. Dann schon lieber das erste Scrabbel geschenkt bekommen, um vom drei Jahre älteren Bruder und Vater bis aufs Blut gedemütigt werden. Heute bin ich Texterin. So habe ich mich damals nicht gefühlt.
Unterm Baum liegt eine merkwürige Konsuminstallation aus Pferdchenfiguren, einem Mumins Bilderbuch, einer "Mein kleines Pony" Ranch und einem Lego-Strand. Soweit gut. Auch weil ich Cordhose trage. Mein Bruder zockt unbeeindruckt Konsole. Aus uns beiden ist trotzdem was geworden.
1995:
Der Junge, das war immer ich. Aufgewachsen in einer Nachbarschaft, die ausschließlich aus älteren Jungs bestand, war ich der schönste Junge. Cordhosenkörperbau und Deutschlandtrikot. Den Fehltritt verzeihe ich mir. 1995 bekamen mein Bruder und ich unseren eigenen Kicker. Wow! Was für ein futuristisches Holzraumschiff. Das Mutterschiff der Langeweileabwehr. Vermutlich haben meine Eltern diesen Tisch ein paar Jahre später wieder verkauft, wie unsere Tischtennisplatte. Vom Geld haben mein Bruder und ich nichts gesehen. Bestimmt haben sich meine Eltern davon ein kleines Pony oder ein noch tolleres Puppenhaus gekauft.
1997:
Am Nikolaustag bekamen wir unseren Hund. Filou. Dieses zauberhafte Geschöpf stieß auch den ersten Umdenkprozess in mir an. Warum nicht mal jemanden beschenken und nicht nur Geschenke erhalten? Bis zu einem bestimmten Alter ist das moralisch unbedenklich. Ich entschied mich meinen Eltern weiterhin nichts zu schenken, aber den Hund mit einem tollen Präsent zu bedenken. Ich schenkte aus Liebe.
1998:
Zum ersten Mal in meinem Leben trug ich lange Haare. Auf diesem qualitativ schlechten Foto (vermutlich eine Aufnahme von Mutter) erkennen wir den Lockenkopf meines Bruders und mich in Latzhose (großes Comeback) und mit auf dem Weihnachtsmarkt geklauter Nikolausmütze. Vermutlich wurde in diesem Jahr bereits der Großteil unserer Geschenke in bar ausgezahlt. Die Faszination an Weihnachten geht nach und nach verloren. Wir gehen verloren. Das wars.
2011:
Es ist still geworden in unserem Haus. Heiligabend. Meine Großmutter schläft unbeeindruckt auf dem Sofa ein. Als sie aufwacht geht sie einfach mitten in der Bescherung heim. Sie lebt hinter einem grauen Schleier. Niemand kann sie wissen lassen, dass heute Weihnachten ist. Der Hund hört nicht mehr. Er sieht nicht mehr. Er ist müde und alt geworden. Mein Onkel kommt gar nicht mehr. Sperrig fühlt sich meine Welt an. Ich bin wehmütig und mir fehlt das Lachen unterm Baum. Dieses Wohnzimmer ohne Kichern, Kreischen, Bellen, Anschreien und Fluchen ist ein leerer Raum. Wir versuchen es mit Gesprächen über die Zukunft zu füllen. Mit Wärme aus dem Kamin, mit Leckerchen für den Hund und mit Scrabble, bei dem ich heute immer gewinne.