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Eure Meinung zu ADHS interessiert mich nicht

Nun ist es so, ich habe ADHS und zeitgleich existiert dazu eine öffentliche Meinung, die sich absolut nicht mit meiner Erfahrung und meiner Ansicht über dieses kleine ‘Defizit’ deckt. Diese Meinung dreht sich um eine Krankheit, um ein Medikament und stigmatisiert mich. Ganz schön blöd, so fühlt sich das manchmal an.

Aber erstmal zu mir: Ich bin 28 Jahre alt und habe nun seit zwei Jahren ADHS, zumindest diagnostiziert. Die Krankheit oder Einschränkung, oder wie auch immer man ADHS beschreiben möchte, zieht sich allerdings wie ein roter Faden durch meine Biographie und ist an den Seiten von Scherben und Zerstörung geziert.

ADHS, da denkt man erstmal an die Zappelkinder aus den hässlichen Hochhäusern am Rande der Stadt, die Cola-Trinker und Süßigkeiten-Esser, die Baller-Spiele-Zocker und die, die in der Klasse rumschreien und ihren Geschwistern Geld stehlen. Diese Facette ist aber nur ein kleiner Ausschnitt einer komplexen Einschränkung, das sollten wir nicht vergessen. ADHS ist kein schichtspezifisches Phänomen, sondern ein Problem, das viele Kinder und Erwachsene betrifft. Natürlich kann man durch liebevolle Zuwendung und Kenntnis des Problems die Spitzen der Symptome etwas abdämpfen, aber gänzlich “heilen” kann man ADHS nicht. Und genau an diesem Punkt packt mich regelmäßig die Wut wenn das Internet mir wieder groben und unreflektierten Gedankenauswurf hinrotzt. “Die sollten halt einfach wieder mehr draußen spielen!” - Klar! So einfach ist das…

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Ich für meinen Teil bin sehr behütet aufgewachsen. Ganz ohne Hochhaus, süße Cola und ganz ohne Eltern, die keine Zeit für mich hatten. Meine Eltern hatten viel Zeit und gestalteten meine Freizeit liebevoll, kreativ und offen. Ich wurde immer geliebt und umsorgt. Wir hatten einen riesengroßen Garten in einer netten Kleinstadt und wir haben getobt und gebrüllt. Dabei fiel ich als kleines Kind nie so besonders auf. Ein gesundes und glückliches Kind, das war ich wohl. Ich war den ganzen Tag aktiv und hing mit den älteren Jungs der Nachbarschaft rum. Dabei konnte ich immer am meisten rumkommandieren und meistens lief alles so wie ich es wollte. Ich gestaltete meinen Tag und es gab kein Problem für mich. Das System funktionierte und arbeitete mir sogar hervorragend zu. Ich war das mutige Mädchen. Das sportliche Kind. Ich galt als selbstsicher und selbstbewusst. Das sollte sich bald ändern. Irgendwann wurden meine Charakterstärken zu Charakterschwächen. Das lag allerdings nicht an mir, sondern am System (Schule und Erwachsensein), was ich leider erst viel zu spät begreifen lernte.

Am Tag der Einschulung wurde vieles anders für mich, auch wenn ich im Nachhinein zugeben muss, mit meiner Grundschulzeit großes Glück gehabt zu haben, denn meine Klassenlehrerin war gerade examiniert und frisch von der Uni, motiviert, voller Energie und ließ das etwas eigenbrödlerische Kind einfach das tun was es am besten konnte und lobte mich für meine Charakterstärke und meine Kreativität. Ich hatte Einsen und ich war motiviert mich einzubringen im offenen Unterricht.

Im Gymnasium wurden mir dann schnell die Beine gebrochen. Meine Ideen und meine Durchsetzungskraft wurden zu einem unüberwindbaren Hindernis für mich. Zu einem handfesten Defizit. Zehn Unterrichtsstunden am Tag. Eigene Meinung galt nun als Aufsässigkeit. Hinterfragen als Frechheit und neue Wege finden als Faulheit. Frontalunterricht. Ich hasste Mathe und ich hasse Latein, und irgendwann hasste ich alle Fächer, verweigerte das Lernen komplett, schaffte es dennoch gute Arbeiten zu schreiben und mich irgendwie durch das System zu aalen, vermutlich weil ich nicht auf den Kopf gefallen war und mich in den richtigen Momenten halbwegs zusammenreißen konnte. Ich wurde unglücklich, denn eigentlich wollte ich ja gerne lernen und was aus mir machen. Ich hatte Wissenshunger, den die Schule mir nicht stillen konnte. Ich war schneller im Lernen als die anderen Kinder. Ich blickte immer nur zurück. Das langweilte mich. Die Frustration wuchs von Tag zu Tag. Ich gab vor die Schule zu besuchen und ließ mich tagelang dort nicht blicken und fütterte lieber im Vogelpark Schmetterlinge. Ich fühlte mich schlecht. Ich kiffte. Ich randalierte. Ich verweigerte mich dem System, das mich nicht mit meiner Persönlichkeit integrieren wollte. Irgendwie hat es einen kleinen Knacks hinterlassen plötzlich für die eigenen Stärken nicht mehr bewundert zu werden, sondern verachtet und getadelt. Diese Ambivalenz ist mir auch heute noch inne, wenn es darum geht mich selber zu beurteilen. Ich habe oft ein sehr gespaltenes Verhältnis zu meinem Ego. Gute Ada. Böse Ada. So ist das eben, ich möchte mich aber nicht beschweren, denn ich komme zurecht. Ich möchte lediglich erzählen.

Das Problem bei ADHS ist bei jedem “Betroffenem” unterschiedlich ausgeprägt und die Krankheit ist facettenreich mit diversen Ausprägungen. Konzentration, Hyperaktivität, Impulsivität und so weiter. Ich kann mich auch heute noch stundenlang in eine Arbeit vertiefen und dieser in absolut asketischer Konzentration nachgehen, solange ich mich selbst dafür entscheide, und solange ich einen Nutzen darin sehe und es mir Spaß macht. Dabei kann ich alles um mich herum vollkommen ausblenden und ein Ergebnis abliefern, das beeindruckt. Aber wehe jemand stört mich darin. Ich arbeite manchmal mit Kopfhörern und kenne Wege und Mittel um aus meinem Defizit einen klaren Vorteil für mich und meine Arbeit zu schaffen. Ich musste erst lernen mir selber ein System zu schaffen, das mich mit meinem ADHS bevorteilt und begünstigt, statt mich zu deprivieren. Dieser Weg war lang und schmerzlich und oftmals ohne Verständnis meiner Umwelt. Und genau das wäre mir vermutlich eine große Hilfe gewesen.

Damit Menschen mit dieser Störung auch einen Weg für sich finden, damit ihnen Verhaltenstherapien oder bestimmte Mittel helfen können, die abseits von Selbstmedikation mit Drogen oder totaler Verzweiflung liegen, ist es notwendig, dass man ihnen ihre Bedürfnisse und Defizite anerkennt und nicht in Abrede stellt. Dabei ist es nicht notwendig sie als ADHSler zu stigmatisieren oder ein Label zu verwenden, sondern sie individuell in ihren Schwächen, Bedürfnissen und Fähigkeiten anzuerkennen. Die komplette Leugnung der Symptome durch die Gesellschaft und die Bagatellisierung des Leids der Betroffenen arbeiten klar dagegen und das sollte jeder Laie und Nichtbetroffene wissen, wenn er wieder vorschnell ein Urteil im Netz fällt. “Einfach mehr draußen toben und Sport treiben!”, das klingt wie ein sehr dummer Witz, wenn man 28 Jahre alt ist und manchmal so verzweifelt und voller Impulsivität, dass man sich so hart ins Gesicht schlägt, dass die Augen für Tage zuschwillen. Ein ganz dummer Witz, wenn man sich wieder mal im Affekt die Hände an der Wand dick und blau geschlagen hat um Erregung abzubauen. Wenn man den tausend Euro teuren Laptop vor lauter Wut über ein Telefonat gegen die Wand wirft, und wenn man Dinge zu Menschen sagt, die man nicht sagen möchte, weil man diese Menschen liebt.

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Versteht mich nicht falsch, ich bin ein intelligenter Mensch, aber meine Sicherungen sind sehr leicht zum Durchbrennen zu kriegen. Das passiert zum Glück nur daheim und auch nur gegenüber mir selbst oder Gegenständen, aber ich habe keine Kontrolle darüber. Ich bin impulsiv. Und ich habe ein Problem mit Konzentration und Warten. Das kann ich schlecht.

Ein Beispiel: Mein Freund schaltet den Fernsehsender um und bittet mich er möge nur fünf Minuten lang einen wichtigen Ausschnitt in einer Doku gucken und ich könne sofort danach weiter entscheiden was ich gucken möchte. Mein Verstand sagt mir, ich sollte mich zurücknehmen, denn natürlich möchte ich, dass mein Freund etwas gucken kann, wenn es ihn interessiert. Ich merke allerdings wie es in mir brodelt. Da schleicht sich plötzlich eine fiese Unruhe ein, die ich selber nicht kontrollieren und steuern kann. Dieses Gefühl die Situation nicht aushalten zu können wird übermächtig. Meine Laune wird schlecht, ich stehe auf uns bringe Sachen in die Küche und komme zurück. Fünf Minuten! Ich kann es nicht. Hantiere am Sofa. Versuche mich zu setzen. Laufe zum Fenster und schaue raus. Mein Freund, der mich liebt, möchte nun wissen, was denn los sei. Und dann platze ich heraus, weil mein Erregungslevel so hoch ist. Die Antwort die nun kommt ist meistens doof und ungerecht. Weil ich sie nicht steuern kann. Weil ich voll mit Energie und Wut bin. Meistens dann schon in einem kleinen Meta-Kreis auf mich selber, weil ich weiß wie ätzend ich mich verhalte und dass andere Menschen sich zusammenreißen können. Warum kann ich es nicht? Defizite. Defizite. Defizite. Ich aber kann es nicht steuern. Ich kann keine fünf Minuten etwas gucken was ich nicht mag. Ich kann nicht still sitzen. Ich könnte nun aufstehen und eine Runde joggen gehen. Das tue ich auch. Oder so ähnlich, aber ich kann es eben nicht in jeder Situation machen. Ständig joggen, wer will das schon? Also muss ich lernen mich diesem Problem zu stellen und Strategien zu entwickeln, die meine Erregung wieder abbauen.

Nun gibt es aber eine wundersame Waffe, die mir hilft dieses Erregungslevel zu kontrollieren, es niedrig zu halten und somit zu vermeiden, dass ich mich gegenüber mir selbst, meinem Freund oder meinen Mitmenschen so verhalte, dass ich mich nachher dafür schäme und die Frustration und Unzufriedenheit weiter anwächst: Methylphenidat (MPH), auch bekannt unter dem Namen “Ritalin” (nur einer von vielen Handelsnamen). Ich nehme täglich drei Kapseln des Arzneimittels und erziele damit große Erfolge. 60-70mg MPH am Tag. Das ist nicht viel. Aber es hilft mir. Ich schaffe es, mein Erregungslevel dauerhaft zu stabilisieren. Das klappt natürlich nicht immer vollkommen, aber es klappt spürbar. Für mich und für meine Umgebung. Das tut mir gut, denn ich laufe nicht wie ein angespannter Flitzebogen durch die Welt. Oder wie Woyzeck sagte: Wie ein aufgeklapptes Messer. Das ist ein echtes Geschenk für mich und ermöglicht mir die Ruhe zu finden um mich mit anderen Strategien auseinandersetzen zu können. Ich habe mich nie gefühlt als ob das Medikament mich verändert hat, wie es Kritiker immer anführen. Ich bin immer noch kreativ und schaffe es endlich wieder meine Schwächen als Stärken nutzen zu können. Das ist ein schöner Moment für das Selbstbewusstsein und das möchte ich mir von uninformierten Laien ohne Leidensdruck nicht nehmen und in Abrede stellen lassen.

Ich sehe ADHS auch mit meinem Background als Diplom Sozialpädagogin ganz pragmatisch: Das Medikament kann helfen einen Basis zu schaffen sich selber mit psychologischen Strategien helfen zu können, dennoch gilt es immer zwischen Nebenwirkungen und Nutzen abzuwägen. Im Einzelfall sollte entschieden werden und das möglichst systemisch: Möchte das Kind das Medikament nehmen? Möchten die Eltern dies? Empfehlen es Fachärzte? Und wenn man sich dann für eine Einnahme von MPH entscheidet, möchte ich bitte auch, das ein Gesellschaft das akzeptiert. Denn diese Medikamente werden eben nicht “verabreicht”, weil sich niemand interessiert, sondern weil Eltern verzweifelt sind und ihrem Kind eine Chancen auf Normalität in einem System einräumen möchten, die ihm sonst vielleicht verwehrt bleiben würden.

Ich programmiere mich nun seit zwei Jahren langsam und mühevoll um. Der Anfang lässt hoffen und ich bin optimistisch. Und dabei ist es mir egal was Ihr über ADHS denkt, aber Euch sollte es nicht egal sein! Danke für die “Aufmerksamkeit”!

Published 6 Feb 2014