Optimier dich doch selbst, du Opfer!
Es ist kurz vor 9 mitten in Manhattan, New York. Am Abend. Ich weiß das heute und in der Regel sowieso immer ganz präzise, weil ich mich vorher mit diesem ganzen p.m. und a.m. Rumgenöle der Amis und der sonstigen coolen Restwelt beschäftigt habe. Ich bin so ein geil kontrollierter Typ (weiblich), zumindest erwecke ich im Kopf meines Gegenübers (zum Beispiel dem Internet) offenbar den Anschein, dass meine gelegentlichen Ausfälle kontrolliert und süß wären. Eher Koketterie als Realität. Denn eigentlich sehe ich ja voll spitze aus, produziere tolle Ideen und bin ein erstklassiges Mädchen. Unsinn! Glaubt man aber von mir. Ich muss ja irgendwie alles im Griff haben, denkt man, denn ich lebe ja, sagt man, ernähre mich und bin dazu noch ein äußerst lustiger Zeitgenosse. So ein richtiges Positivbeispiel für alles mögliche. Sollten die anderen Kinder und besonders die anderen Mädchen doch auch alle so sein. So natürlich geblieben und schrecklich selbstsicher und der ganze geile Kram aus den Joghurtwerbungen. Schmarrn! Wer mich persönlich kennt, weiß um meine unzähligen Mängel. Und die gehören, so ist es eben, untrennbar zu meiner Person und meinem Selbstbild.
Hallo! Ich möchte gefälligst darum kämpfen als fehlerhaft wahrgenommen zu werden. Ich möchte dies aus der festen Überzeugung tun, dass nicht nur mir und meinem Selbstbild diese Ehrlichkeit entscheidend gut tut, sondern ich möchte ebenso dem Optimierungszwang und den hässlichen Seiten des Optimierten-Selbst, dem immer aggressiver werdenden Shaming von Menschen, die in den Augen der Gesellschaft vermeintlich nicht die “optimale Version” ihrer Person sind, meinen ausgestreckten Mittelfinger entgegenhalten - und dabei möchte ich genüsslich einen dicken Joint rauchen und ohne Zähne zu putzen ins Bett gehen und dann noch ein Schokoladeneis essen und in Katzenhaaren liegen.
In wenigen Minuten wird der Fressmarkt am Union Square schließen. Dreißig Foodtrucks stehen auf dem Court in Reih und Glied und liebäugeln mit den Passanten um die kleinen Plastikkarten mit denen sie hier alles bezahlen und die immer etwas nach Arsch riechen. Oh, jetzt ist Eile geboten. Kurz vor 9. Nein, gleich machen die hier alles dicht! Ich kippe schnell im Park noch eine Flasche Weißwein in mich und meinen Freund rein. Natürlich heimlich und in Sodadosen umgefüllt. Dreißig Grad an diesem Tag. Dunkle Achselflecken auf dem weißen T-Shirt. Hot! Die Sonne hat sich, Gott sei Dank, schon hinter den großen Büroklötzen verabschiedet und lässt mich mit meiner Lobster Roll Hautfarbe für heute in Ruhe. Gelber Ficker! Mein großen Poren schwitzen Matsche aus. Ich bin den ganzen Tag gelaufen wie ein Aufziehmännchen. Das Mädchen in der großen Stadt. Über den Williamsburg Flea Markt flaniert. Zur Brooklyn Bridge. Wieder nach Manhattan. Ins Hotel. Aus dem Hotel. Zum Weindepot. Zurück. Den Flaschenöffner vergessen. Hin und her. Nun sitze ich hier und habe Wein im Kopf.
Die erste Auster meines Lebens verschwindet an diesem Stand in mir. $1,50 und ich bin schwer begeistert und fühle wie ich vor Glück auf dem heißen Asphalt zerberste und einfach mal die Kontrolle verliere. Etwas salzig und das Fleisch glibbert einem nur so die Fressröhre runter. Ich habe matschiges Austernfleisch im Bauch. Wie herrlich absurd und skurril sich das anfühlt! Heute soll mir alles recht sein. Ich habe jahrelang keinen Fisch gegessen und nun, mit 28, schlägt die Geilheit des Meeres einfach so zurück und bekommt mich doch noch. Wehren kann ich mich nicht. Ich bin stolz darauf, dass es mir schmeckt. In mir brennen Tausend Lichter der Freude und der Selbstliebe. Meine Wangen sind vom Wein errötet und ich bin verliebt in meinen Freund, der im Folgenden das Glück hat mich bei meiner Explosion beobachten zu dürfen.
Nur heute, das denke ich regelmäßig und gebe mich Exzessen und Ausschweifungen hin. Nur kurz. Nur schnell und eilig so viel wie man kann. Alles vollstopfen mit Suff, Freude, Essen, Sex. Die Reserven füllen. Es werden dunkle Tage kommen. Und sie kommen. Schnell kaufe ich mir noch allerhand Essbares auf dem Markt. Eine Holzofenpizza mit vier Käsesorten, zwei fettige Duck Buns, ein leckeres Eis. Dann stellen wir uns in der langen Schlange vor Shake Shack an. Wir lachen. Essen einen gigantischen Burger. Und Pommes, also Cheese Fries, und ein Getränk. Mein Bauch quillt vorne über die Hose. Ich berühre ihn. Ein Wein wird schnell aus der Apfelsaftdose hinterhergekippt. Wir bleiben kurz atemlos sitzen. Tolle Stadt! Tolle Ada! Nur das Rauchen beginne ich an diesem Abend wieder nicht. Ich würde aber, wenn ich Lust drauf hätte. Zum Glück kommt niemand vorbei und verkauft mir Hasch-Trüffel. So bleibt es eben nur beim Essen pumpen und schwitzen wie so ein vollgefutterter Mensch es eben tut. Wir ziehen weiter. Die Auswahl in New York ist der Wahnsinn. Artichoke New York Slices. Jedes Slice an sich ist so groß wie eine herkömmliche Pizza und etwa drei Mal so schwer. Vier herrliche Zentimeter Cheese-Artichoke thronen auf dem dicken Pizzaboden. Es werden drei Slices. Für mich. Und ein Eisbecher bei Momofuku, der nach Cerealien Milk und Liebe schmeckt und mit zuckrigen Cornflakes verziert ist. Mir ist megaschlecht.
Hui! Die letzten Meter nach Hause krieche ich mehr als dass ich sie laufe und werde die ganze Nacht im Bett liegen und mich fragen: Was habe ich nur gemacht? Warum optimiere ich mich stattdessen nicht lieber? Aber muss das denn jetzt echt sein, denke ich und dann kommt plötzlich die tolle Ada um die Ecke, diese eine die ich so liebe und sagt der blöden Ada, der mir der Reue: Junge, egal! Wir sind eine Person. Fuck that shit! Es ist einfach nicht wahr, dass ich dich trotzdem mag! Sondern ich mag dich genau deswegen! Und das ist der kleine Unterschied. Und das müssen wir alle noch lernen.
Die Tendenz ist eindeutig: Ob Women-Running-Night, Schwangerschaftssport oder Akademikerinnen-Yoga, ob dies, ob das - wir versuchen uns alle zu optimieren. Laufhosen. Bauchfrei. Ich habe keinen Bock mehr. Bester Abschluss. Beste Feministin mit der richtigsten Ansicht. Antideutscher als alle anderen. Das neuste Modell Schuhe. Schönste Selfies. Vegan. Biomarkt. Das tollste Haustier. Optimaler Haarschnitt. Alles im Griff haben. Kleidung, die der Figur schmeichelt. Und die Gesellschaft steuert auch ein nicht so unwesentliches Portiönchen Druck dazu. Optisch, psychologisch, sozial und auf allen anderen erdenkbaren Wegen - es geht immer etwas besser. Wir verlieren also am laufenden Stück gegen die Vorstellung, die wir von einem besseren Selbst haben. Aber was bedeutet das überhaupt? Sich optimieren? Sich verbessern? Gibt es überhaupt eine bessere Version von sich selbst? Ist es nicht respektlos gegenüber sich selbst und den Menschen, die einen als Person lieben, wenn man sich durch Teilhabe an Optimierung in seiner jetzigen Person selber herabwürdigt? In seinen Bedürfnissen und Ideen? Wenn man seine Gegenwart opfert? Entwürdigt man sich damit nicht? Ist es nicht eigentlich eine unfassbare Unverschämtheit sich selber als schlechtere Version von sich selbst zu verstehen?
Im Ernst: Ich bin die beste Version, die es von mir gibt!
Führen wir uns unsere eigene Person vor Augen. Lernen wir halt mal uns nicht nur als “nicht optimal” zu akzeptieren, sondern eben dieser nicht-optimalen Person den Vorzug über die langweilige Optimalversion zu geben. Sie mehr zu schätzen. Uns dafür zu lieben, dass wir uns nachts um halb vier noch drei Pizzen nach zwei Flaschen Suff in den Backofen stellen und am nächsten Tag verpennen und mit schmutziger Unterwäsche zur Arbeit hechten. Ist das nicht lustig? Haben wir damit nicht Größe bewiesen? Und dafür brauch es nichtmal einen dummen Hashtag und einen aussagelose Kampagne von der Stange einer verschissenen Mineralwassermarke, die am Ende doch nur wieder Kundinnen binden will, die “etwas anderes ticken”, aber “trotzdem auf sich achten”. Ich will hier nichts von #100happydays oder #sizezero Dreck hören. Ich will verdammt nochmal, dass ihr euch etwas entspannt in dieser Welt!
Zum Abschluss meine zwei schönster Fail-Moment der letzten beiden Wochen in optisch nicht so ansprechender Form. Und ich finde mich trotzdem noch ziemlich in Ordnung. Und die Pizzen auch.